Der Guru trinkt Schnaps?

Übersetzt aus dem Englischen The Guru drinks Bourbon ? von Dzongsar Jamyang Khyentse wird Mitte Januar 2018 bei uns erscheinen. Hier ein Auszug aus seiner Einführung:

Vajrayana ist ein Abenteuer!

Habt ihr schon mal von einer tibetischen Klangschale gehört? Die hat es in Tibet nie gegeben – bis irgendwann ein gerissener Erfinder, der sich wirklich darauf verstand, aus der Tibet verherrlichenden Rührseligkeit Kapital zu schlagen, mit eben diesem Instrument aufwartete. Jetzt gibt es sie überall, als seien sie die tibetische Kultur an sich. Selbst Tibeter in Dharamsala und Kathmandu haben diese Klangschalen als Teil ihrer eigenen Kultur angenommen. Mit den chinesischen Glückskeksen ist es das Gleiche, sie sind gar nicht chinesisch. Sie wurden in Amerika nach einem japanischen Rezept neu erfunden und werden jetzt serviert, als seien sie die Quintessenz chinesischer Küche, selbst in authentischen chinesischen Restaurants. Solchen Gefahren sind wir ausgesetzt, wenn wir uns nicht in Acht nehmen. Eines Tages wird auch nicht-authentischer Buddhismus – wunderschön verpackt und nett vermarktet – als der echte angepriesen werden. Daher ist genaues Prüfen wichtig: die Lehren prüfen, den Lehrer prüfen und den Schüler prüfen. Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben.

Vajrayana ist ein Pfad der Einheit von Weisheit und Methode, der Einheit von Wissenschaft und Vertrauen, der Einheit von Mythos und Wahrheit.

Im Buddhismus ist es auch wichtig, den Unterschied zwischen Theorie und Praxis zu kennen. Theorien sind Vorstellungen wie: „Alle Dinge sind weder aus sich selbst, noch aus etwas anderem entstanden“. Praxis schließt Techniken wie aufrechtes Sitzen ein. Theorie und Praxis scheinen sich oft zu widersprechen. Theorie fördert Bezugs- und Richtungslosigkeit, wohingegen Praxis voller Bezugspunkte und Richtungen ist. Aber diese Richtungen führen den Praktizierenden zum bezugslosen Punkt – ohne Richtung. Das Guru-Prinzip ist eine Praxis. Es ist eine Technik, keine Theorie. Tatsächlichist es die höchste aller Techniken.

Wenngleich dieses Buch möglicherweise Schülern hilft, die einen Guru suchen oder denen, die versuchen eine Beziehung mit dem Guru aufrechtzuerhalten, ist es jedoch nicht weise anzunehmen, die hier dargelegten Techniken funktionierten für jeden. Außerdem ist es nicht das letzte Wort zu diesem Thema. Es sind lediglich meine Worte. Die Gliederung des Buches, insbesondere von Kapitel 2 bis 4, orientiert sich an Jigme Lingpas Rat. Doch was ich geschrieben habe, beruht auf meiner eigenen Erfahrung mit meinen eigenen Lehrern und meinen eigenen sogenannten Schülern, die durch ihre karmische Schuld an mich gebunden sind. Daher kommen auch Themen wie ,Sex als Darbringung‘ vor, die euch womöglich hochschrecken lassen, wenn ihr denkt, im Buddhismus ginge es nur um Frieden, Gewaltlosigkeit, Vegetarismus, Achtsamkeit, Glaube an Wiedergeburt und um Sitzen.

Überdies muss ich betonen: Die Sicht und Techniken des Vajrayana-Pfades sind so weitreichend und reichhaltig, dass es mir unmöglich ist, alles zu erklären. Dennoch hoffe ich, ihr besitzt das Durchhaltevermögen, das gesamte Buch durchzulesen, und es hilft euch dabei, mit der Vajrayana-Welt wenigstens etwas vertrauter zu werden, und ihr lernt hoffentlich wertzuschätzen, dass Vajrayana mehr ist als Mantra, Ritual, Gottheit, Guru, Mandala und tantrischer Sex.

Dieses Buch ist für jene geschrieben, die eine natürliche Neigung zum Vajrayana haben, wie Milarepa und Shantideva, die sich nicht mit gewöhnlicher Logik und Vernunft zufrieden gaben und nicht ohne weiteres die bekannte Welt so annahmen, wie sie sich ihnen zeigte. Es ist für jene, die keine Zeit für Bedienungsanleitungen haben, denen Landkarten suspekt sind und die die Kühnheit besitzen, auf einen anderen Menschen zu setzen. Es ist für jene, die nicht nach einem Sicherheitsnetz suchen, die sich lieber den Boden unter ihren Füßen wegziehen lassen, als ein Gefühl von Sicherheit und Richtung zu haben. Es ist für Menschen, die herausgefordert werden wollen. Dieses Buch ist für all diejenigen, die enthusiastisch begonnen haben, tantrischen Buddhismus zu praktizieren und dann zu ihrem Entsetzen feststellten, dass sie sich – um dem buddhistischen Vajrayana-Pfad zu folgen – von einem Guru
führen lassen müssen.

Sich zu entschließen, einem anderen Menschen zu folgen – keinem Gott, keiner Maschine, nicht der Natur, keinem Regierungssystem, nicht der Sonne oder dem Mond, sondern einem duschenden, schlafenden, gähnenden, scheißenden, launischen und bestechlichen Wesen – das ist entweder das Dümmste, was ein Mensch tun kann, oder das Lohnendste. Es ist eine Gabe, diese Neigung als auch die Hartnäckigkeit zu besitzen, ihr nachzugehen. Es ist eine Gabe, zweifelsfreies Vertrauen zu haben. Es ist eine Gabe, fähig zu sein, Zweifel durch Zweifel töten zu können. Nicht jeder hat diese Gaben.

Einer von Nyoshul Lungtoks Schülern besaß diese Gaben. Als er einmal die Kleidung des Guru wusch, fand er darin Spuren von Scheiße und dachte: „Oh, der Vajradhara scheißt.“ Da er jedoch Anweisungen darüber erhalten hatte, wie ein Schüler den Lehrer als den Buddha betrachten solle, tadelte er sich sofort: „Wie kann ich denken, dass der Vajradhara scheißt?“ Aber dann tadelte er sich erneut, indem er dachte: „Ist das nur der Kriecher in mir?“ Daraufhin tadelte er sich ein drittes Mal und kam zu dem Schluss, dass ein Kriecher zu sein bloß ein Konzept, eine Angst ist. Und nach all dieser Schelte folgte er weiterhin dem Guru – nicht blind, sondern von ganzem Herzen.

Habt ihr einmal diese Reise der Vajrayana-Praxis angetreten, können viele Dinge geschehen, und ihr solltet darauf vorbereitet sein. Es ist wichtig, Vertrauen zu haben, aber es ist auch gut, zu zweifeln und den Verstand zu nutzen. Vertrauen ist oft eine Nachwirkung von Zweifel, und Zweifel entsteht als Nachwirkung von Vertrauen. Wobei das Zweite oft viel stärker wirkt. Am
Ende müssen wir beides fallen lassen.

Vajrayana ist ein Pfad der Einheit von Weisheit und Methode, der Einheit von Wissenschaft und Vertrauen, der Einheit von Mythos und Wahrheit. Doch viele Materialisten, die nicht über dieses Leben hinausblicken, erfassen
die Untrennbarkeit dieser Dualitäten nicht. Sie mögen beeindruckt sein von der Weite und Tiefe der Theorie der Nicht-Zweiheit, während sie Vertrauen und Hingabe ignorieren – obgleich Vertrauen und Hingabe die Vehikel sind, durch die wir wirksam zur Nicht-Zweiheit gelangen. Sie können die Logik der Wahrheit akzeptieren, lehnen dann jedoch Mythos und Ritual hochnäsig ab. Sie scheinen nicht zu verstehen, dass man die Wahrheit nur durch den Mythos verstehen kann, da alles, was wir sagen, eine Sage ist.

Selbst Vajrayana-Praktizierende finden es schwierig, diese scheinbar nicht vermählbaren Paare miteinander zu vermählen, oder sie versuchen es nicht einmal. Viele wenden etwa die Methode an, sich vor dem Guru niederzuwerfen oder eine Lotosblüte darzubringen – die Hände schön in der Anjali-Mudra zusammengelegt – aber sie tun dies als Ritual ohne Anwendung von Weisheit. Niederwerfung ist Unterwerfung, aber nur sehr wenige werfen sich mit echtem Vertrauen nieder. Sie denken nicht: „Ich werfe mich vor der Gottheit nieder, die nichts anderes ist als ich selbst, und ebenso wirft sich die Gottheit vor mir nieder.“ Zu wissen, dass die Gottheit und der sich Niederwerfende ein und derselbe sind, ist die letztendliche Niederwerfung.

Hier in diesem Buch versuche ich aufzuzeigen, dass der Guru eigentlich vergleichbar ist mit dem Horizont. Ein Horizont ist sichtbar – eine Linie, an der Erde und Himmel sich zu treffen scheinen. Aber in Wirklichkeit treffen sie sich nie. Es ist nur die Illusion eines Endpunktes, eines Bezugspunktes, an dem wir stehen und messen und abschätzen können. Ebenso ist der Guru wie ein Horizont zwischen Weisheit und Methode, Mythos und Wahrheit, Wissenschaft und Glaube.

Fortsetzung in 2 Wochen!