Der Guru trinkt Schnaps?

Fortsetzung zum Blog vom 1.1.18: Auszug aus der Einführung des Buches von Dzongsar Jamyang Khyentse, das vom Englischen The Guru Drinks Bourbon? übersetzt wurde. Hier der folgende Text.

Begriffe bestimmen
Es wird im gesamten Buch Begriffe geben, die neuen Schülern nicht vertraut sein mögen und von denen selbst langjährige Schüler bloß denken, sie hätten sie verstanden. Obwohl ich mir einige Mühe gegeben habe, buddhistische Fachausdrücke und Redensarten zu vermeiden, wollte ich es doch nicht allzu sehr vereinfachen. Überdies ist einiges an buddhistischem Jargon unschätzbar wertvoll.

Die drei Yanas
Es gibt den Buddhadharma seit mehr als 2.500 Jahren. Er wurde zu Zeiten von Jesus praktiziert, in der Zeit der Kreuzzüge, aller chinesischen Dynastien, des Zweiten Weltkriegs, der Entstehung des Internets und während unzähliger weiterer historischer Ereignisse. Er reiste aus dem Land der in Weiß gehüllten, mit nacktem Oberkörper im Ganges Badenden zu den gesichtswahrenden, kindlich-frommen Verehrern der Ahnen, weiter zu den rauen, musiklosen und institutionslosen Schneegipfel-Bewohnern, zu den eleganten, akribischen Minimalisten und schließlich zu den schuldbewussten Gläubigen, die ‚an die Unschuld glauben, bis jemand für schuldig befunden wird‘. Er blühte zu Zeiten, als spirituell Suchende in der Mehrheit waren – als Sannyasins verehrt wurden und als es guter Brauch war, den Yogis Almosen zu geben, damit sie umherwandern konnten – so wie es heute Gepflogenheit ist, Stipendien einzurichten, damit Studenten nach Harvard gehen können. Er blühte zu Zeiten, in denen Könige und Königinnen Religion als Mittel zur Selbstverherrlichung und zur Stärkung ihrer Macht nutzten. Er blühte in Zeiten des Marihuana-Rauchens und der Blumen im Haar. Und er blüht noch immer in Zeiten von extremem Materialismus.

Die grundlegende Absicht aller Lehren des Buddha ist es, den Wesen zu helfen, die Wahrheit zu verstehen. Weil es unendliche Arten von Wesen mit unendlich vielen Wegen gibt, die Wahrheit falsch zu verstehen, lehrten die Buddhas auf unendlich viele Arten und Weisen. Jede einzelne Methode ist anders – manchmal ein wenig, manchmal grundlegend. Über die Jahre wurden die einzigartigen Methoden des Buddha von Gelehrten und Historikern lose gruppiert und kategorisiert. Sie fanden es hilfreich, die Lehren in Kategorien zusammen zu fassen: nach ihrer Sprache, ihrem Inhalt oder der geographischen Herkunft. Als Ergebnis haben wir jetzt verschiedene sogenannte Schulen des Buddhismus, die Yanas.

Der Buddha warnte vor dem Kategorisieren, denn gibt es Kategorien, bilden sich Vorlieben. Zwangsläufig gilt dann eine Kategorie als niedriger als die anderen. Menschen werden sektiererisch und elitär: Bist du Apple- oder Windows-Anwender? Dennoch müssen wir in diesem Buch – weil es unvermeidlich ist und um Verwirrung zu vermeiden – manche dieser kategorisierenden Begriffe benutzen. Zunächst werden wir über das sprechen, was gemeinhin als die drei Yanas des Buddhismus verstanden wird: Shravakayana (wie etwa Theravada), Mahayana (wie etwa Zen) und Vajrayana (wie etwa
Shingon oder der tibetische tantrische Buddhismus).

Die Mahayana-Buddhisten in Gegenden wie China und Japan und die Shravakayana-Buddhisten in Gegenden wie Thailand und Myanmar erkennen nicht alle die Rolle des Gurus im Vajrayana-Buddhismus an. Eigentlich missbilligen sie sogar viele Vajrayana-Methoden, und man muss ihnen zugutehalten, dass sie ihre Ansichten auf die Worte des Buddha selbst stützen können. Der Buddha sagte im Dhammapada: „Ich kann euer Leid nicht beseitigen; ihr müsst euer Leid selbst beseitigen“, und: „Ich kann meine Erleuchtung nicht teilen.“ Er sagte auch: „Ihr seid eure eigenen Meister. Kein
anderer kann euer Meister sein.“ Pilger, die Bodhgaya – den Ort von Buddhas Erleuchtung – besuchen, werden diese berühmten Sprüche in Stein gemeißelt am Mahabodhi-Tempel vorfinden. Von diesen Aussagen bestärkt, schelten die Shravakayana- und Mahayana-Buddhisten die tantrischen Buddhisten für die Guru-Praxis, die zu versprechen scheint, dass ein externer Meister Leiden
beseitigen und sogar Erleuchtung gewähren kann. Ihrer Ansicht nach widerspricht die Hingabe für den Guru dem Wort des Buddha. Aus der Vajrayana- Sicht dagegen steht die Beziehung zwischen Guru und Schüler vollkommen im Einklang mit den Worten des Buddha. Hingabe für den Guru ist nicht ohne Grund die Quintessenz des Vajrayana. Wie wir sehen werden, widerspricht es nicht dem Buddha, da der tantrische Schüler letztendlich erkennt, dass der Guru kein äußeres Wesen ist.

Die Ursachenpfade und das Ergebnis-Fahrzeug
Oft beziehen wir uns auf Tantra oder Vajrayana als ‚Ergebnispfad‘ oder Ergebnis- Fahrzeug, und auf Mahayana und Shravakayana als ‚Ursachenpfade‘. Was meinen wir mit diesen Begriffen? Angenommen jemand gibt uns einen Korb mit Eiern, ein paar Pilzen, ein bisschen Käse und einer Zwiebel und sagt: „Hier sind die Zutaten für ein Omelett.“ Das Wort ‚Zutaten‘ verweist darauf, dass diese Dinge ein Omelett verursachen werden. Das Potential liegt dort im Korb. Wie auch immer, ein Meisterkoch würde keinen Atemzug daran verschwenden, um den Korb-Inhalt zu erläutern, da er ihn bereits als das Omelett selbst erfasst. Er hat die Erfahrung und die geistigen Fähigkeiten, um einfach zu sagen: „Hier ist dein Omelett.“

Wenn wir sagen: „Dies wird ein Omelett werden“, oder: „Dies ist ein Omelett“, besteht der Unterschied darin, dass dem ersten Satz ein gewisses Vertrauen fehlt. Es fehlt die größere Perspektive. Diese Semantik mag unbedeutend klingen, ist jedoch sehr wichtig: Worte und Sprache reflektieren und formen tatsächlich unsere Haltung und unsere Vorstellungen. Beschreibt man jemanden zum Beispiel durch folgende Aussage: „Er kann ein guter Mensch werden“, wird das eine andere Reaktion hervorrufen, als wenn man sagte: „Er ist ein guter Mensch“. Dies gilt immer für alles, was gesagt oder geschrieben wird: Jedes Wort wird von jedem Menschen unterschiedlich gemeint und interpretiert. So haben natürlich Worte wie ‚Liebe‘, ‚Mitgefühl‘, ‚Geistesschulung‘,
‚Hingabe‘, ‚Gebet‘, ‚Tugend‘, ‚Moral‘, ‚Segen‘ und ganz besonders auch das Thema dieses Buches – ‚Guru‘ – unterschiedliche Bedeutungen und Assoziationen im Shravakayana, Mahayana und Vajrayana und führen daher zu unterschiedlichen Standpunkten.

Auf den Ursachenpfaden, dem Shravakayana und Mahayana, wird uns gesagt, wir haben das Potential, ein Buddha zu werden. Wir haben alle Zutaten. Aber in den höchsten Belehrungen des Ergebnisfahrzeugs, dem Höhepunkt des Tantra, wird uns gesagt, dass nichts verändert oder vorbereitet werden muss, was oder wer wir auch sind, ist der Buddha. Tatsächlich ist jedes fühlende Wesen Buddha und jeder Ort ist ein Buddha-Gefilde. Daher werden tantrische Schüler mit den entsprechenden Fähigkeiten den Guru als den Buddha sehen und diese Einsicht als Methode nutzen, sich selbst als Buddha zu entdecken. Diese Wahrnehmung gilt für beide Seiten. Wenn ein tantrischer Guru einem Schüler eine Einweihung gibt, beruht dies einzig auf der Zuversicht,
dass der Schüler der Buddha ist.

Man mag sich fragen: „Was machen denn die tantrischen Schüler überhaupt, wenn der Guru und der Schüler schon der Buddha sind? Warum praktizieren sie dann den Dharma? Warum brauchen sie Hingabe für den Guru?“ Die meisten Menschen in dieser Welt hatten nicht das Glück, auch nur ein einziges Mal darüber informiert worden zu sein, dass sie Buddha sind. Gemäß den Schriften ist der Umstand, dass ihr diese Wahrheit auch nur einmal gehört oder gelesen habt, das Ergebnis guten Karmas aus sehr vielen Lebzeiten. Aber glaubt ihr das wirklich? Und wenn ihr es glaubt, handelt ihr dementsprechend? Habt ihr Vertrauen in diese Einsicht – nicht nur intellektuell, sondern als Erfahrung?

Wir sind nicht dazu bestimmt, den Satz „Alle Wesen sind Buddha“ zu lesen, dann das Buch zu schließen und ins Regal zu stellen. Dem Pfad zu folgen bedeutet, sich wie ein Buddha zu verhalten, wie ein Buddha zu denken, wie ein Buddha zu wohnen, sich wie ein Buddha zu offenbaren, wie ein Buddha SMS zu versenden, wie ein Buddha einem nörgelnden Freund zuzuhören, wie ein Buddha in der Schlange im Supermarkt anzustehen, wie ein Buddha eine schwarze Krawatte für ein Dinner im Buckingham Palast zu tragen. Das Kultivieren der Disziplin zur Aufrechterhaltung des Gewahrseins, dass alle Wesen Buddhas sind, Donald Trump und Pol Pot mit eingeschlossen, und dass jeder Ort ein Buddha-Gefilde ist, einschließlich Patpong und Las Vegas, diese Methode nennen wir Vajrayana, den Ergebnispfad.

Da alle Phänomene gleichermaßen rein und vollkommen sind, gibt es auf dem Ergebnispfad keinen Unterschied zwischen dem Schüler und einem Guru – sie sind beide gleichermaßen Buddha. Ein nihilistischer Akademiker der Universität in Oxford, ein Priester aus dem Vatikan, der an die Ewigkeit glaubt, und ein Yogi aus dem Himalaya sind alle gleichermaßen Buddha. Es gibt kein Fünkchen Unterschied zwischen ihnen. Ein mit den passenden Fähigkeiten und Voraussetzungen ausgestatteter Schüler zieht den Segen sogar aus Werken von Richard Gombrich oder Stephen Batchelor. Die Ursachen und Bedingungen müssen aber genau übereinstimmen, damit diese Wirkung eintritt. Wenn ein Otto Normalverbraucher einen Anarchisten wie Noam Chomsky trifft und die richtigen Umstände nicht gegeben sind, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass Dr. Chomsky den Otto zur Erleuchtung führen wird. Letztendlich ist es für Otto eine sicherere Sache, jemanden mit der Ausstattung eines Gurus zu suchen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird ein Yogi mit Dreadlocks auf einem Tigerfell am Ufer des Narmada-Flusses oder zumindest ein gelassener Mönch unter einem Banyan-Baum bei ihm eher einen Funken der Inspiration entfachen, als ein Zyniker oder ein Linguist.

Ottos Karma, welches über die reine Möglichkeit der Wahl hinausgeht, wird seinen Pfad bestimmen. Manche Menschen sind mehr geneigt, Zeit und Energie zu investieren, um den Funken der spirituellen Inspiration zu verfolgen, und andere sind eher geneigt, durch das Lesen von Noam Chomsky der Befriedigung intellektueller Masturbation nachzujagen. Diese Neigungen und Verbindungen hängen von Ursache, Bedingung und Wirkung ab – eine besondere Form von Karma, die wir ‚Tendrel‘ nennen und später im Detail erörtern werden.

Auf den Ursachenpfaden, dem Mahayana und Shravakayana, wird die Untrennbarkeit von Guru und Schüler nicht erwähnt, wohingegen der ganze Sinn und Zweck des Vajrayana darin besteht, den Zustand der Untrennbarkeit von Guru und Schüler zu erkennen und zu verwirklichen. Untrennbarkeit bedeutet nicht, gemeinsam zu reisen, miteinander zu schlafen oder zusammen zu duschen. Es ist, wie wenn ein Gefäß bricht: Der Raum innerhalb des Gefäßes und der Raum außerhalb des Gefäßes werden untrennbar. Dann gibt es keinen Guru, dem man über den Globus hinterherjagen müsste, und es gibt keinen Schüler, der den Guru vermisst. Dann gibt es keinen Guru, den man anfleht und auch keinen Schüler, der die Last trägt, dem Guru danken zu müssen. Wenn dies für euch schwer zu schlucken und zu verdauen ist, dann mag das daher kommen, dass ihr ein zu starkes Gefühl von Sehnsucht nach dem Guru hegt. Ihr mögt denken, es sei frevelhaft, den Guru nicht zu vermissen, und so haltet ihr an der Trennbarkeit fest. In diesem Falle ist vielleicht der Ursachenpfad eher für euch geeignet.

Auf dem Ursachenpfad ist der Guru wie ein Vorbild, ein Ideal, ein Meister, dem ihr eure Ehrerbietung und euren Respekt erweist, dem ihr Opfergaben darbringt und dem ihr folgt. Als ein Mahayana-Buddhist würdet ihr – ganz gleich wie viel Ehrfurcht ihr vor eurem Guru habt – niemals anstreben, den Zustand eines Gurus in diesem Leben zu erreichen. Ihr mögt vielleicht nach einer Anerkennungsurkunde streben, die belegt, dass ihr selbst ein Guru geworden seid, um sie anderen zeigen zu können, aber ihr strebt nicht wirklich danach, den Zustand der Erleuchtung eines Gurus zu erreichen. Ein Zen-Buddhist würde niemals behaupten, dass sein oder ihr Sensei der Buddha oder der Dharma ist. Für ihn ist der Sensei ein geachteter Lehrer, ein Erzieher, einer der anführt. Es gibt für einen Zen-Schüler keine Methode anzustreben, mit seinem Sensei eins zu werden – das steht schlichtweg nicht auf der Speisekarte.

Im Tantra kann der Guru ein Vorbild sein, ein Idol, ein Erzieher, selbst ein Chef – aber er muss auch noch viel mehr sein als das. Der Guru ist der Pfad, der Guru ist der Dharma, der Guru ist der Buddha und der Guru ist die Gottheit. Tatsächlich ist im Tantra der Guru letztendlich alles, vom Gipfel des Fujiyama bis zum Staub unter deinen Füßen – die kühle Brise, das Zirpen der Zikaden, eine Symphonie, die Sonne, der Mond, die Sterne, der Kosmos. Genau genommen: Alles was innerhalb der Sphäre des Geistes erreicht, beleuchtet oder vorgestellt werden kann – das ist der Guru. Das Erhellende, der Geist selbst, ist daher der innere Guru.